Es ist ein ungewöhnliches Aufeinandertreffen auf dem Testgelände in Linthe: Zwei Reisebusse aus den 1970er-Jahren stehen sich gegenüber – ein westdeutscher Setra-Prototyp und ein ungarischer Ikarus 250. Zwei Fahrzeuge, die unterschiedlicher kaum sein könnten und doch dieselbe Aufgabe erfüllten: Menschen komfortabel und sicher ans Ziel zu bringen.
Schon die ersten Erinnerungen der Fahrer zeichnen ein Bild zweier Welten. „Mit diesem Bus war das 1975/76, als der Prototyp fertig war“, erzählt ein ehemaliger Setra-Mitarbeiter. Damals durfte er als junger Geselle bei der Probefahrt mitfahren – nicht selbst am Steuer, aber immerhin an Bord. Sein Gegenüber erinnert sich an den Einstieg in die Ikarus-Welt: „1974 habe ich bei der BVG gelernt und bin dann in den Reiseverkehr gewechselt. Dort waren die 200er-Baureihen unser tägliches Brot.“ Im Sommer ging es mit Touristen quer durch Europa, im Winter stand Schrauben und Warten auf dem Programm: „Wir mussten unsere Fahrzeuge selber pflegen, hegen und reparieren.“
Innovation trifft Pragmatismus
Technisch stehen beide Busse für unterschiedliche Philosophien. Setra gilt als Pionier: die selbsttragende Karosserie, die den Namen „Setra“ überhaupt erst prägte; die Querstrombelüftung, bei der frische Luft von der Seite in den Fahrgastraum strömt; und die erstmals verklebten Scheiben, ein Novum, das viele Fahrgäste anfangs irritierte – denn Fenster auf Kipp gab es nicht mehr.
Beim Ikarus dagegen dominierte das Praktische. Dachluken und Gebläse sorgten für frische Luft. Die Fahrer nannten das augenzwinkernd „die russische Klimaanlage“. Und nicht wenige Gäste fanden den Effekt angenehmer als moderne Kältemaschinen: „Die heutigen Fahrgäste sagen, besser als eine Klimaanlage, weil hier das ganze Auto lüftet.“
Unterschiede im Detail
Beim Fahrwerk gehen die Wege weit auseinander. Der Setra setzte schon früh auf Einzelradaufhängung vorne und kombinierte Scheiben- und Trommelbremsen. Zusätzlich gab es eine Wirbelstrombremse von Telma – eine verschleißlose Dauerbremse, die Bremsbeläge schonte und die Sicherheit erhöhte. Der Ikarus blieb bei der bewährten Starrachse und durchgehenden Trommelbremsen, allerdings ebenfalls auf Luftfederung.
Unter der Haube arbeitet im Setra ein kraftvoller Mercedes-V10 mit 320 PS und beachtlichen 16 Litern Hubraum. Der Ikarus setzt dagegen auf einen RÁBA-Lizenzmotor – kein Turbo, dafür ein einfacher Saugdiesel, der sich leicht warten ließ und vor allem in großer Stückzahl verfügbar war.
Auch beim Bordnetz gingen die Ungarn pragmatische Wege. Der Ikarus kam mit vier Batterien und separatem Nebenverbraucherkreis, sodass Kühlschrank oder Kaffeemaschine unabhängig vom Starterstrom liefen – bemerkenswert für ein Fahrzeug aus dem Ostblock. Für den Winterbetrieb gab es zudem eine Thermalheizung, die das gesamte Kühlwasser vorwärmte. „Früh auf 80 Grad bringen und der Motor springt sofort an“, schwärmt der Fahrer.
Komfort aus zwei Perspektiven
Wer heute in einem dieser Klassiker Platz nimmt, spürt sofort die Unterschiede. Im Setra sorgen Teppiche, Stoffbezüge und eine gute Dämmung für Ruhe im Innenraum. „Es ist etwas angenehmer von der Geräuschdämmung her“, heißt es anerkennend. Der Ikarus wirkt schlichter, überrascht aber mit verstellbaren Sitzen und cleveren Detaillösungen – damals durchaus modern.
Auch der Laderaum ist typisch: Setra punktet mit höherem Boden und größeren Klappen, der Ikarus mit einem durchgehenden Kofferraum, der fast alles schluckt.
Der Praxistest
Auf der Teststrecke müssen beide Busse beweisen, was in ihnen steckt. Aus Tempo 80 bringt der Setra es auf einen Bremsweg von 42,9 Metern – für die 1970er respektabel, aber zehn Meter länger als heutige Reisebusse benötigen. Der Ikarus zeigt sich in der Kreisbahn erstaunlich stabil, trotz fehlender Assistenzsysteme.
Das Urteil der Mitfahrer fällt nüchtern aus: Der Setra wirkt kultivierter, ruhiger, technischer. Der Ikarus robust, weicher gefedert, aber keineswegs unsicher. „Reisen war früher eben gleichbedeutend mit sehr weich“, heißt es am Ende der Probefahrt.
Zwei Philosophien, ein Ziel
So unterschiedlich die Konzepte auch sind – am Ende eint beide Marken ihre Bedeutung für Generationen von Reisenden. Setra steht für Innovation, Komfort und technische Exzellenz. Ikarus für Massenproduktion, Verfügbarkeit und robuste Alltagstauglichkeit.
Die Gesprächspartner bringen es auf den Punkt: Während Setra in Ulm unter 1.000 Fahrzeuge im Jahr baute, liefen in Budapest bis zu 25.000 Ikarus-Busse vom Band. Exportiert wurden sie in den gesamten Ostblock, nach Kuba – und sogar bis nach Los Angeles.